„Corona hat unser anspruchsvolles Ziel nicht verändert“ – Experten-Interview mit Professor Philipp le Coutre

Foto: Medizinreporter André Berger
Dank moderner, zielgerichteter Therapien ist die Lebenserwartung von Patientinnen und Patienten mit einer chronischen myeloischen Leukämie (kurz CML) heute annähernd genauso hoch wie die von gesunden Menschen – vorausgesetzt sie werden engmaschig medizinisch kontrolliert und behandelt.¹ Die letzten zwei Jahre der Pandemie stellten insofern sowohl für die Betroffenen als auch für die Ärztinnen und Ärzte eine besondere Hausforderung dar. Wie es gelang, dass aus der Krise kein Desaster wurde, dazu der Schirmherr des MPN-Patient*innentags Berlin und Leiter des hämatologischen Labors der Charité, Professor Dr. med. Philipp le Coutre.
Gerade zu Beginn der Pandemie war die Sorge groß, dass Patientinnen und Patienten mit CML nicht mehr an ihre Therapien gelangen. War die Sorge berechtigt?
Zum Glück: nein! Wir haben viel Zeit und Energie darauf verwandt, dass trotz Lockdowns die engmaschige Betreuung bei CML aufrechterhalten werden konnte. Um die Exposition in der Klinik so gering wie möglich zu halten, haben wir – wie viele andere Häuser auch – allerdings mehr auf die „virtuelle Visite“ gesetzt. Fragen – wie die nach Nebenwirkungen – konnten wir auch telefonisch oder per E-Mail beantworten. Andere Prozesse, wie z.B. das Abholen von Rezepten oder die Blutabnahme für die PCR-Laboruntersuchungen haben wir optimiert, dass ein unnötig langer Aufenthalt in der Klinik vermieden werden konnte. Patient*innen in stabiler, molekularer Remission konnten trotz „social distancing“ dadurch engmaschig kontrolliert und gut behandelt werden.
Und wie war es bei Patient*innen, bei denen die CML während der Pandemie neuaufgetreten ist?
Corona hatte erfreulicherweise keinen Einfluss auf unser ambitioniertes, ärztliches Ziel. Für die relativ wenigen Neu-Patient*innen konnten wir die bewährte Standard-Versorgung nahezu uneingeschränkt weiter aufrechterhalten. Mit den Therapien wollen wir nicht bloß, dass sich das Blutbild normalisiert, wir wollen den Blutkrebs unter die Nachweisbarkeitsgrenze zwingen. Ob wir dabei auf die richtige Therapie setzen, sagen uns auch in Zeiten von Corona nur die pünktlichen Laboruntersuchungen drei, sechs und zwölf Monate nach Diagnose. Tatsächlich hat sogar die Neuaufnahme in klinische Studien funktioniert.
Wie das? Sind CML-Patient*innen nicht gerade durch das SARS-Virus besonders gefährdet?
Nach allem was wir wissen, ist es wichtig zu betonen, dass die CML selbst keinen besonderen Risikofaktor für einen schweren Verlauf bei einer Covid-Infektion darstellt – auch wenn die Kinderstube des Immunsystems, das Knochenmark betroffen ist. Darauf weisen nicht nur größere Studien aus China und Italien hin. Auch wir haben Corona nicht öfter bei CML-Patient*innen diagnostiziert als in der Normalbevölkerung. Es gibt auch keine Hinweise auf schwerere Verläufe. Das gilt ebenfalls für den Einsatz von Tyrosinkinase-Inhibitoren (den TKIs): trotz leichter immunsuppressiver Wirkung haben Untersuchungen kein vermehrtes Krankheitsrisiko im Rahmen der Pandemie ergeben. Mutmaßlich liegt das daran, dass bei der CML – wie der Name sagt – das myeloische System der Blutbildung betroffen ist.
Das ist auch der Grund, warum für CML-Patient*innen die normalen Corona-Impf-Empfehlungen der STIKO gelten?
Genau. Bei Infektion, Krankheitsverlauf und Erlangung einer Immunität bei SARS-CoV2 übernehmen insbesondere die lymphatischen Blutzellen – sprich B- und T-Zellen – wichtige Funktionen. Deshalb gibt es bei einer „normalen“ chronischen myeloischen Leukämie auch keinen Grund, sich nicht impfen zu lassen. Insbesondere wenn man die tiefe Remission erreicht hat. Im Gegenteil: CML-Patient*innen haben sicher durch die Priorisierung profitiert – und sei es bloß, dass sie ein Stück Selbstsicherheit und Normalität zurückerlangt haben.
Klingt fast so, als hätte die Pandemie für CML-Patient*innen überhaupt keine Einschränkung bedeutet?
Doch, klar! Neben all‘ den Einschränkungen, die jede andere Mitbürgerin und jeder andere Mitbürger durch die verschiedenen Maßnahmen hinnehmen mussten (und die für chronisch kranke Patient*innen oft eine stärkere Bedeutung hatten), haben wir bei Patientinnen und Patienten auf die Fortführung der medikamentösen Therapie gesetzt, was ihnen gerade in diesen unruhigen Zeiten eine gewisse Sicherheit gab.
Quellen:
1. https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/chronische-myeloische-leukaemie-cml/@@guideline/html/index.html